Tiere töten für den Fortschritt? Tierversuche und Tierethik in der Wissenschaft

Bericht von Henning Kirschbaum, B.A.-Studierender der Philosophie

Dürfen Wissenschaftler:innen, moralisch gesehen, Versuche an Tieren durchführen? Falls ja, an welchen Tieren? Und welche Art von Experimenten? – Und wie ist es überhaupt um die Lage von Tieren, an denen geforscht wird, bestellt? In welchem Umfang ist Forschung an lebenden Tieren noch nötig – und für welche Zwecke? Mit solchen und ähnlichen Fragen befassten sich über drei Tage hinweg bis zu 19 Studierende aus 17 verschiedenen Disziplinen auf Englisch im Q+-Seminar mit Exkursion „Tiere töten für den Fortschritt?! Tierversuche und Tierethik in der Wissenschaft“.

 

Einen Einstieg in das schwierige und zurecht kontroverse Thema Tierversuche bot zunächst am 20.11.2023 Jan Lauwereyns, seines Zeichens Vizepräsident für Internationales und Professor für Neurowissenschaft an der renommierten Kyushu University in Japan. Das Studienprogramm Q+ kooperiert nun offiziell mit der dortigen School of Interdisciplinary Science and Innovation, deren Vizedekan Jan Lauwereyns ebenfalls ist. Basierend auf einem Blitzeinstieg in die Ethik und Tierethik eröffnete Jan Lauwereyns den Studierenden in einem spannenden Vortrag und Austausch tiefe Einblicke in das Feld der wissenschaftlichen Tierversuche, ihrer Ethik und wie sie moralisch zu verbessern sind. Besonders anregend war dabei sicherlich Jan Lauwereyns ganz persönliche Geschichte mit und Einsichten in die Tierversuchspraxis, die er selbst als Forscher zunächst an Affen und später an Mäusen und Ratten gewinnen konnte – und die den Ausgangspunkt seines kritischen Nachdenkens über das Thema bildete. Während Jan Lauwereyns Tierversuche nicht für per se moralisch falsch hält, tritt er dafür ein, dem international als Standard definierten Konzept „3R“ – Reduction, Replacement, Refinement – konsequenter zu folgen. Dabei vertritt er selbst eine differenzierte und zugleich kritische Perspektive auf das Konzept, das aus seiner Sicht allzu häufig unterlaufen und aufgeweicht wird.

 

Am darauffolgenden Tag wurde die Sichtweise Jan Lauwereyns’ durch Jan Baumgart und Uwe Wolfrum ergänzt und erweitert. In seinem anregenden Vortrag ging Jan Baumgart, Fachtierarzt für Versuchstierkunde und Tierschutz sowie Leiter der Tierversuchseinrichtung der Universität Mainz, besonders auf die Situation der Versuchstiere in Mainz, Deutschland und Europa ein und erläuterte die rechtlichen Rahmenbedingungen von Tierversuchen in Europa und Deutschland. Er betonte dabei den aus seiner Sicht sehr strengen, gesetzlich geregelten Schutz, unter dem Versuchstiere in Deutschland und Europa stehen und auch Jan Lauwereyns, der den Workshop an allen Tagen begleitete, bestätigte, dass die Standards in Deutschland weltweit führend seien. Im Anschluss erläuterte Uwe Wolfrum ausführlich die Notwendigkeit von Tierversuchen in seiner Forschung für die Entwicklung von Medikamenten zur Behandlung des sogenannten Usher-Syndroms, einer Erbkrankheit, die zu einer Seh- und Hörbehinderung führt. Der Leiter einer entsprechenden Forschungsgruppe und Professor für Zoologie an der Universität Mainz vertrat dabei die Position, ähnlich wie seine Vorredner, dass Tierversuche, die etwa zur Erforschung von Therapien von schweren Krankheiten wie dem Usher-Syndrom nötig seien, moralisch zu rechtfertigen seien, während dabei aber ständig kritisch zu prüfen sei, welche Forschung an welchen Tieren tatsächlich wissenschaftlich notwendig ist. Alle drei Referenten vertraten damit durchaus differenzierte ethische Positionen zur Tierversuchskunde, die sie zu einer ständigen kritisch-moralischen Reflexion ihrer Forschungsarbeit führen.

 

Nach einer eintägigen Pause ging es dann für die Teilnehmenden auf eine Exkursion an das Ernst Strüngmann Institut (ESI) für Neurowissenschaft in Frankfurt, das den Studierenden einen breiten Einblick in seine Tierversuchsforschung ermöglichte. Dort wurden die Exkursion von Dr. Christa Tandri und Dr. Alf Theisen, die als Veterinärmediziner:in für Tierwohl- und -gesundheit zuständig sind, in Empfang genommen. Zunächst boten die Wissenschaftler:innen Dr. Martha Nari Havenith und Dr. Ma-rieke Sholvinck sowie Dr. Jean Laurens, die je ein Team von Forschenden am ESI leiten, einen theore-tischen Überblick über ihre wissenschaftliche Arbeit mit Tieren. Während Frau Havenith und Frau Sholvinck über ihre Forschung an und die Situation von Labormäusen und -ratten berichtete, erläuterte Jean Laurens, welchen wissenschaftlichen Fragestellungen er mit seinen Versuchen an nicht-humanen Primaten nachgeht und wie sich die Situation von nicht-menschlichen Primaten in der Forschung be-sonders am ESI darstellt. Im Anschluss an diese interaktiven Präsentationen bot sich den Teilnehmen-den die Möglichkeit, sich in mehreren Kleingruppen sowohl einen Eindruck von der Haltung der klei-nen Marmosetten sowie der etwas größeren Rhesus-Affen am ESI zu verschaffen und sich die Ver-suchsaufbauten zweier Doktoranden am ESI erläutern zu lassen. Den Abschluss bildete eine gemeinsa-me kritische Reflexion des Exkursionstages. Insgesamt bot das Seminar damit die einmalige Möglich-keit, tiefe theoretische Einblicke in Zustände in der Tierversuchskunde und deren Ethik zu erlangen sowie Erfahrungen aus der Praxis am Beispiel des ESI zu sammeln.

 

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