Fukuoka Blog

Leo Palm studiert Kunstgeschichte im Master. Derzeit besucht er die Kyushu University in Fukuoka, Japan. In diesem Blog berichtet er von seinen Erlebnissen.

30.06.2022

Konnichiwa liebe Leute,

mir gefällt’s in Fukuoka unglaublich gut. Die Qualitäten hier, des Lebens wie der Lehre, entsetzen mich vor Glück. Ich muss mich manchmal zwicken.

Ich wohne am Rand des Dschungels, in dem Orleander, Magnolien und Orangen die Berge hoch wachsen, der Buschsänger im Bambus sein mysteriöses Lied pfeift und der Auerochs einem Glauben macht, er sei der Kaiser des Waldes. In 10 Minuten erreiche ich das türkisblaue Meer, den Tempel und das Restaurant, dort schmeckt der Fisch, als lebte und zappelte er noch. Noch heftiger ist das Meer auf der anderen Seite, im Westen (halbe Stunde mit dem Fahrrad): Dort geht die Sonne unter. Das ist so schön, ich muss fast kotzen.

Die Stadt überwältigt mich, wie sich nachts die Lichter im Fluss und auf der Marmorpromenade spiegeln und alles blinkt wie Zuckerwatte. Meine Sinne verschmelzen dort und ich kann stundenlang nicht einschlafen. Zuletzt war ich im Kysushu Museum (das inmitten eines buddhistischen Schreins liegt) in der Hokusai-Ausstellung. Danach habe ich wirklich anders gesehen, die Horizonte staffelten sich neu, Konturierungen verschwammen, konzentrierten sich und machten Gefühle sichtbar. Das fängt kein Foto ein.

Eigentlich bin ich ja nur wegen der Uni hergekommen, die bauen hier bekanntlich ein Institut für Interdisziplinary Science & Innovation auf. Was mich wirklich ausfüllt, ist tatsächlich die Uni. Die Lehre ist eine Befreiung. Von der globalen Relevanz gehen die Themen aus, statt bloß nach mikroskopischen Forschungslücken zu suchen. Und das Interesse wecken die Faszination, die Innovation und Leichtigkeit des Vortrags, nicht die Autorität und der Dünkel. Manchmal meditieren wir in der Vorlesung.

Der Campus, den ich kaum verlassen möchte, surft aus einer grünen Techno-Zukunft daher. Er fließt in den Dschungel. Die Architektur verspielt sich imposant und stolz: Glas, Marmor, Klimaanlagen und Rolltreppen – dazwischen Ahorn mit Blättern wie Ninjasterne. Letze Woche war hier Candle-Night: Überall auf dem Campus Kerzen, dazwischen spielten studentische Bands und Orchester traditionelle, süße japanische Musik oder harten Rock.

Ich speise täglich drei Mahlzeiten in der Cafeteria, so gut schmeckt die. Und die Kommiliton*innen haben echt was auf dem Kasten. Ihre Forschungsthemen klingen wie von der Reddit-Startseite. Alle sind so lieb und dienen mit klasse Musiktipps.

Bald mehr!
Euer Leo

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30.05.2022

LANDSCHAFT.
Unberührter Dschungel und eine Stadt wie Actionfiguren aus den 80ern.
Die Hügel von Fukuoka sehen aus wie die Kappen von Pilzen. Nicht von Champignons oder gar Pfifferlingen, eher wie von diesen Phallusartigen, die nur von Käfern und den Beatles gegessen werden. Oder wie Sinuskurven. Noppen. Nippel ohne Brust und Vorhof. Geschwüre. Pocken. Aber nicht so rau wie Pocken, eher eingecremt, weil die Atmosphäre wie ein durchsichtiges Gelee darauf klebt. Sagen wir: Die Hügel von Fukuoka sehen aus wie große, von Moos bewachsene Pickel. Von Nahem gesehen ist das natürlich kein Moos, sondern auf den Pickeln wachsen Bäume. Aber das ist kein Wald. Das ist Dschungel!

Bambusse, Palmen, Lerchen- und Lebensbaumartige, Pampelmusen, Ranken und Lianen, welche mit Blättern wie Ninjasterne, welchen mit solchen wie von Mimosen, welche, die eine Hand aus leuchtenden Stacheln reichen, Sumpfgras, das im Wind zittert. Und nirgendwo ein Eingang. Erschreckend, die Natur ist hier nicht Untertan sondern nebenan. Das Reich der Menschen fließt ineinander mit dem unberührten und lebendigen, undurchdringlichen und gefährlichen Dschungel.

Wie in Zungen leckt die Stadt nämlich die schmalen Täler zwischen dem Dschungel aus. Die Häuser von Fukuoka könnten alle das Headquarter der Power Rangers sein. Zwei Zeitplatten driften hier ineinander: Die Zukunft und die späten 80er. Vorspringende Stockwerke, rundliche Grundrisse, überall 120°-Winkel. Viel Glas und bemaltes Metall ohne Colorschutz, besonders das Türkis. Auch die Autos und besonders Nutzfahrzeuge wie Raupen oder Bagger sehen aus wie von einem anderen Planeten oder aus einer LSD-Fantasie von Japan. Wie Actionfiguren könnten sie sich in jedem Moment zu Robotern, Transformers, entfalten. Sonst sind da eckige Büs’chen, Betonungen der Senkrechten – und wieder lauter 120°-Winkel. Die Straßen glänzen grau, sauber ohne Makel oder Pflaster. Insgesamt alles ein bisschen wie auf der Enterprise.

Das Klima ist tropisch und die Luft riecht fruchtig wie, ich habe lange gebraucht draufzukommen, Pfirsich-Weizen-Jasmin-Tee, aber das ist der Dschungel, der so riecht. Hier zu landen ist wie in Anno 1503 auf den südlichen Inseln zu ankern und ahnungslos durch den Dschungel zu wandern, nur um plötzlich auf eine unbemerkte Zivilisation zu treffen, die schon 500 Jahre weiter ist.

TIERE.
Der Dschungel atmet finstere Phantasmagorien.
Abends um halb acht ist das Licht im sommerlichen Fukuoka schon stark gedimmt. Um die Uhrzeit ist der Strand von einem durchsichtigen Gelee überzogen: tote Quallen überall, als wäre ein Containerschiff voller Silikonpads gestrandet. Die Bars haben schon zu. Von einem Tempel unter Kiefern schweift der Blick über die gelbe Bucht zu den Bergen gegenüber.

Die Straße zwischen Meer und Wohnheim schlängelt sich auch zwischen Dschungelbergen hindurch. Im Büchsenlicht pfeift ein Vogel im Dickicht seinen rätselhaften Gesang. Ganz langsam, aus dem Nichts lässt er sein „Huuuuuuuu“ kommen, wird gemächlich lauter und höher, dann plötzlich, auf der Kuppe des Klangs, auf dem Höhepunkt der Erwartung, wenn alle Nerven kitzeln, reißt der Spannungsbogen und der Vogel ätschibätscht wie im Stakkato: „Hi-hu!“. Stille, als wäre nie etwas gewesen. Ein Harlekin in finst‘ren Farben, ein Verführer in die mondscheinsilberne Zwischenwelt. Ein anderer Vogel krächzt sibyllisch aus der Ferne: „Boooora! Boooora!“. Immer nur zwei Mal, enigmatisch; lockend wie eine Sirene, warnend wie Kassandra. Grillen zirpen flimmernd, goldig süß, die Frösche ratschen und klackern hölzern und leise. Aus einem Busch summt es bald wie 1000 kaputte Hochspannungsleitungen. Dann wird es wieder leiser. Man sieht nun mehr kaum etwas, die rote Sonne ist schon hinter den Bergen verschwunden, spiegelt aber noch im Himmel einzelne, letzte Luxe.

Neben mir, im Dickicht direkt an der Straße, ist etwas. Ich sehe nicht hinter die Bambus- und Dornenbarrikade. Versuche mich an einem Ast hochzuziehen, aber erspähe nur laubigen, erdigen Boden und düstere Nacht. Gehe weiter. Dann: Eine Art Lichtung, ein Eingang in den Dschungel? Nur ein Stück, schon schießen hohe Gräser aus dem Boden, schmelzen zu buschigen, dornigen Hecken und die Äste darüber verschränken sich immer enger. Plötzlich raschelt etwas in im Dickicht, nicht klein. Vielleicht ein Marder, eine Wildsau, ein Bär? Ich pirsche mich an. Es raschelt immer näher. Bald bin ich wohl keine zwei Meter mehr dran. Es muss in einem Abhang aus hohen Sumpfgräsern kreuchen, preiselbeerigen Gewächsen und armigen Bäumen. Kurz bevor ich es erblicken kann, schreit es wie aus der Hölle: Schrill, krähend, unglaublich laut und tödlich. Als wäre ich in eisiges Feuer gefallen. Wie eine Millionen Fingernägel, die über grüne Unterrichtstafeln ziehen, während man gleichzeitig hektoliterweise Billigschnaps auskatert. Ein fauchendes Zischen wie hunderttausend verdampfende Dämonen in den flammenden Gründen von Sodom und Gomorrha. Eiskalt renne ich zurück auf die Straße, noch bevor ich das Tier sehen konnte.

Die Nacht ist bald samtschwarz. Mit Mühe erkenne ich die Straße und gehe in ihrer Mitte, soweit weg wie möglich vom zitternden, zirpenden, pfeifenden, raschelnden, klackendernden, blubbernden Dickicht, das nun schwarz direkt neben den Bürgersteigen hochschießt. Eine bedrohliche Symphonie des Fremden, tropisch und surreal. Der Dschungel atmet.

Auf einmal, aus vielleicht 50 Metern Entfernung, mitten aus dem Dschungel, ein fürchterliches Geräusch. Es muht oder röhrt oder brummt, schallt tief, gleichzeitig dumpf und voll Resonanz, wie Schläge auf eine uralte, tonnenschwere Totenglocke oder das Öffnen eines dutzende Meter hohen, verrosteten Tores zu einem vergangenes Reich. Erst drei Mal kurz, dann einmal ganz lang. Mir gefrieren die Adern. Das muss der König des Waldes sein. Ich stelle mir einen haarigen Ochsen mit einem Geweih wie ein tausend Jahre alter Baumwipfel und einer Mähne wie von einem Löwen vor. Wären sie nicht ausgestorben, könnte es auch ein Dinosaurier gewesen sein, dessen Revier sich bis in die Ferne erstreckt, wo sein dunkler Schrei noch zu hören ist. Da höre ich aus jener Ferne ein zweites, solches Wesen. Vielleicht rufen hier sehnsüchtig zwei Liebende.

Entsetzen ist namenlos. Furcht herrscht eben vor dem Unerkannten, nicht dem schon Unbekannten. Später frage ich einen Freund, der sich mit Tieren auskennt: Der phantasmagorische Harlekin war ein Japanbuschsänger, der nur so groß ist wie eine Meise – der offizielle Präfekturvogel von Fukuoka nebenbei, japanische Nachtigall genannt, Protagonist in den schönsten Sommerhaikus. Aber wer war der König des Waldes? Das majestätische Geschöpf, dem der Berg gehört, das röhrt wie aus gigantischen Urzeiten? Das, liebe Kinder, war ein Ochsenfrosch. Ja, ein Frosch, keine zwanzig Meter groß, nicht mal zwanzig Zentimeter klein. Doch, last but not least, was hat da geraschelt und geschrien wie ein Hangover aus der Hölle? Das weiß Levin auch nicht, aber am nächsten Tag habe ich einen Waschbären gesehen. Aber hier leben auch richtige Bären. Und Giftschlangen und –Spinnen, BTW.

In Deutschland wird von der Rückkehr der Arten geträumt. Von einer unberührten Natur. Aber die Wälder, die sich die romantisierenden Deutschen vorstellen können, sind eigentlich Gärten, höchstens Parks, ausgelichtet, ausgeholzt und von Spinnen, Schlangen und Keilern, Zähnen, Stacheln und Klauen, Gift, Grauen und Gewalt gesäubert. Und das ist gut so. Manche Tiere gehören ausschließlich in den Zoo. Oder es soll ein Land nur für Tiere geben. Mit Grenzen aus Elektrostacheldraht, überdacht und überwacht. Grob nach Blumenberg: Den Überdrüssigen mag die Beherrschung der Wirklichkeit als ein ausgeträumter, des Träumens nie wert gewesener Traum erscheinen. Solche, die noch nicht zu diesem Erfolg gelangt sind, träumen den Traum weiter und würden seine Verwirklichung denen entreißen, die aus ihm schon erwacht zu sein glauben.

Nach den schauderhaften Phantasmagorien verstehe ich plötzlich die Geistermythologien der japanischen Kultur. Begreife, dass die schauerlichen Tuschezeichnungen von Tieren mit aufgerissenen Augen, von verführerisch verhüllendem Bambus, von musizierenden Zwischenwesen und Dämonen, das Dunkle, schreiend Lachende, nicht den zufälligen Weg einer eben anderen ungerichteten, künstlerischen Evolution eingeschlagen hatte, sondern eine Zwangsläufigkeit in dieser Landschaft ist. Beispielsweise erscheint Prinzessin Mononoke, der Anime aus den Ghibli Studios, der in einem fluoreszierenden Dschungel spielt, nicht mehr so fantasievoll ausgesponnen, sondern eher wie eine Mimesis des Sensuellen bzw. wie die Verdichtung des Dschungels durch das Brennglas in einem wundervollen Punkt.

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