Bildungsgeschichte(n)

Mittwochs | 18:15 - 19:45 Uhr | Hörsaal N2 (Muschel)

Die Ringvorlesung verfolgt das Anliegen, die kultur- und geistesgeschichtlichen Grundlagen von abendländisch-europäischen Bildungsvorstellungen zu erforschen, die auf die Frage nach dem Menschen selbst rekurrieren. Ziel ist es, das Spannungsfeld auszuloten, das den sozial konstruierten Gegensätzen von Natur vs. Vernunft, Sinnlichkeit vs. Bildung, "Barbar" vs. Mensch in der Bildungsgeschichte inhärent ist: über das römische Ideal der humanitas, die Protagonisten des Renaissance-Humanismus, die Nürnberger Poetenschule, die als „dritter Humanismus" festgestellten bayerischen und preußischen Bildungsreformen, bis hin zu Positionen eines anhaltenden Gesprächs über Bildung an Schule und Universität.

Alle Interessierten sind herzlich willkommen!

Organisiert von den Studierenden des Studienprogramms Q+: Laura Eckhard, Melanie Guth, Jakob Huf, Katharina Kresse und Freya März sowie von Prof. Dr. Matthias Müller.

25. Oktober 2023 | Stefan Seit | Ältere Philosophiegeschichte, Mainz | Nur eine harmonische Ausbildung der individuellen Anlagen… (Friedrich Immanuel Niethammer, Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus, 1808) Die Geburt des Humanismus aus dem Geist der idealistischen Philosophie 

Nach verbreiteter Auffassung ist ‚Humanismus‘ im Sinn der Orientierung an kulturellen, sprachlichen und philosophischen Vorbildern der klassischen Antike ein spezifisches Kennzeichen frühneuzeitlicher Gelehrsamkeit in programmatischer Abgrenzung gegenüber der mittelalterlichen Scholastik. Tatsächlich aber haben sich die „Renaissance-Humanisten“ selbst keineswegs so genannt und sie haben ‚Humanismus‘ auch nicht als eine Art Epochenbezeichnung gebraucht. Vielmehr gab es den ‚Neuhumanismus‘ idealistischer Philosophen und Bildungstheoretiker des beginnenden 19. Jh.s gleichsam vor dem Humanismus der Frühen Neuzeit, handelt es sich bei ‚Humanismus‘ doch zunächst um einen Begriff, der in den bildungstheoretischen und -politischen Debatten, in deren Zentrum Personen wie Friedrich Immanuel Niethammer und Wilhelm von Humboldt standen und denen wir nicht zuletzt das Konzept der ‚Allgemeinbildung‘ (d.h. der ‚allgemeinen Menschenbildung‘ im Unterschied zur berufsspezifischen Ausbildung) verdanken, eine zentrale Rolle spielte. Von hier aus wurde der Begriff dann Schritt für Schritt auf frühere Kontexte übertragen, mit denen man sich aus der Sicht des 19. Jh.s besonders identifiziert hat: eben auf den frühneuzeitlichen Renaissance-Humanismus, dann aber etwa auch auf den „Humanismus des 12. Jh.s“ etc. Schließlich scheint die Geschichte der (europäischen) Kultur geradezu in einer Folge von Humanismen zu bestehen, ‚humanistisch‘ kaum mehr als die Bezeichnung für einen Typ von Gymnasien zu sein, den es überdies kaum mehr gibt, und der Begriff auch noch den letzten Rest an Trennschärfe eingebüßt zu haben.

Stefan Seit studierte Germanistik, Katholische Theologie, Philosophie, Geschichte und Pädagogik. 1999 promovierte er in Katholischer Theologie in Bamberg in einem kirchengeschichtlichen Thema, 2005 folgte in Tübingen die Promotion über „Hermeneutik und christliche Skepsis“ in Philosophie. 2014 habilitierte er sich mit einer Arbeit über „Das Glück der Philosophen“ an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz, wo er seit 2013 die Professur für Ältere Philosophiegeschichte vertritt.

08. November 2023 | Silvio Vietta | Literatur- und Kulturgeschichte, Bielefeld | Europäische Rationalitätskultur und Produktivität der Bildung

Die europäische Kulturgeschichte ist geprägt von der genuin europäischen Rationalitätskultur. Sie ist eine Erfindung der griechischen Antike. Es ist die Erfindung von Wissenschaft-Philosophie (ursprünglich eins), einer darauf aufbauenden Technik und Ökonomie, die die europäische und heute globale Weltgesellschaft prägt. Wir leben in einer wissenschaftlich-technisch-önomischen Zivilisation. Zu den zentralen Werten der Rationalitätskultur gehört die Betonung des eigenen Denkens, der Selbstverantwortung, daher auch Selbstbestimmung, Freiheit, Demokratie. Bildungsgeschichtlich ist vor allem die Entdeckung der Produktivität des Denkens von großer Bedeutung. Das bedeute, dass wir diese Eigenproduktivität des Denkens schulen und entwickeln müssen. Das ist eine der wichtigsten Voraussetzungen des Produktivitätsstandortes Deutschland, dem die gegenwärtigen und vergangenen Bundesregierungen viel zu wenig Aufmerksamkeit widmeten.

Nach dem Studium der Germanistik, Philosophie, Anglistik und Pädagogik promivierte Silvio Vietta 1970 an der Universität Würzburg über „Sprache und Sprachreflexion in der modernen Lyrik“. 1981 folgte die Habilitation im Fach der Neueren deutschen Philologie an der Universität Mannheim mit einer Arbeit über „Neuzeitliche Rationalität und moderne literarische Sprachkritik“. Neben Lehraufträgen an den Universitäten Heidelberg, Mannheim, Tübingen und zuletzt Hildesheim, trug Vietta maßgeblich zur Entstehung einer kritischeren Epochenforschung, besonders zur deutschsprachigen Frühromantik, zur ästhetischen Moderne oder zum Expressionismus sowie zur Etablierung einer kulturwissenschaftlichen Europaforschung bei. Letztere bereicherte er durch den jüngst erschienenen Band „Europas Literatur. Entstehung. Strukturen“ (2022). Silvio Vietta ist emeritiert und lebt heute in Heidelberg.

15. November 2023 | Thomas Schauerte | Direktion der Museen der Stadt Aschaffenburg | Athen in Nürnberg  - Aufstieg, Niedergang und Nachleben der "Poetenschule" von 1496

Der Begriff „Poetenschule“ klingt heute fast ein wenig beschaulich. Doch war sie als unabhängige Bildungseinrichtung der Nürnberger Humanisten der konservativen Geistlichkeit mühevoll abgetrotzt worden und stand als vermeintliche Brutstätte des „Neuheidentums“ von Beginn an unter Beschuss. Zwar erzwang man schon 1508 ihre Schließung, doch ließ sich der Fortschrittsgedanke nicht mehr unterdrücken, und so fand sie 1526 – mitten in der Reformation – im „Egidiengymnasium“ Fortsetzung und Nachfolge.

Thomas Schauerte studierte Geschichte, Christliche Archäologie und Kunstgeschichte an den Universitäten Bayreuth und Berlin. In Berlin legte er 1999 an der Freien Universität zu Berlin eine Dissertation zur Albrecht Dürers „Ehrenpforte für Kaiser Maximilian I.“ vor. Neben zahlreichen Lehraufträgen, etwa an den Universtäten Heidelberg und Trier sowie einer Mitarbeit im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg war er auch kuratorisch tätig. Von 2009-2019 leitete er das Albrecht-Dürer-Haus sowie die Graphischen Sammlungen der Stadt Nürnberg. Seit 2019 ist Thomas Schauerte Direktor der Museen der Stadt Aschaffenburg.

22. November 2023 | In dieser Woche keine Vorlesung - verschoben auf 20.12.

29. November 2023 | Nina Gallion | Neuere Geschichte, Mainz | „Wissen ist Macht" – Bildung im Mittelalter

Als Karl der Große im Jahr 800 als erster mittelalterlicher Herrscher zum Kaiser gekrönt worden war, läutete er mit einer umfassenden Bildungsreform einen Wandel des Bildungswesens ein. Der wissenschaftlich sehr interessierte Karl forcierte unter anderem die Einrichtung von Schulen, die Verbesserung der Klerikerausbildung und die Laienbildung und unterhielt an seinem Hof einen illustren Gelehrtenkreis, zu dem auch der spätere Mainzer Erzbischof Hrabanus Maurus zählte. Als Ergebnis der Reformbemühungen erhielten Klosterschulen einen besonderen Aufschwung, unter denen zum Beispiel St. Gallen hervorzuheben ist. Die aus dem 11. Jahrhundert überlieferten „St. Galler Klostergeschichten“ nämlich ermöglichen einen intimen Einblick in den damaligen Schulalltag.

Nina Gallion forscht mit Schwerpunkt auf der Stadt-, Kirchen- und Bischofsgeschichte mit besonderem Fokus in Südwest- und Norddeutschland sowie der Hof- und Geschlechtergeschichte. Ihr Studium der Germanistik sowie der Mittleren und Neueren Geschichte an der Universität Heidelberg schloss sie nach wissenschaftlichen Mitarbeiten in Köln und Kiel und Greifswald mit einer Dissertation zum Thema „Wir, Vogt, Richter und Gemeinde – Städtewesen, städtische Führungsgruppen und Landesherrschaft im spätmittelalterlichen Württemberg (1250–1534)“ ab. Nach einem erfolgreich abgeschlossenen Habilitationsstipendium lehrt Nina Gallion seit April 2020 als Professorin und Leiterin des Arbeitsbereichs Spätmittelalterliche Geschichte und Vergleichende Landesgeschichte an der JGU Mainz.

06. Dezember 2023 | Anke Vogel | Buchwissenschaft, Mainz | Totholz oder lebendiger Wissensspeicher? Zur Rolle von Buch und Lesen für Bildungsprozesse

Die Lesekompetenz von Kindern am Ende der Grundschulzeit hat sich in Deutschland in den vergangenen Jahren deutlich verschlechtert. Im Rahmen des Vortrags sollen Gründe und Folgen analysiert werden. Darüber hinaus werden Ansätze in den Blick genommen, wie diesem Problem begegnet werden kann. Gedruckte Bücher – von manchen despektierlich als „Totholz“ bezeichnet – werden dabei genauso in die Überlegungen einbezogen wie digitale Medienformate und Leseförderansätze.

Anke Vogel schloss 2005 nach einer Ausbildung zur Buchhändlerin ein Studium der Buchwissenschaft und Publizistik in Mainz ab. 2011 wurde sie im Fach Buchwissenschaft promoviert. Seit 2005 ist sie an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig. In ihrer Dissertation Der Buchmarkt als Kommunikationsraum – eine kritische Analyse aus medienwissenschaftlicher Perspektive (2011) geht sie der Frage nach, wie der Buchnutzer in einem nahezu unüberschaubaren Angebot zu seinem Buch findet, welche Rolle verschiedene Medien und Multiplikatoren dabei spielen.Ihr Habilitationsprojekt beschäftigt sich dem Umgang älterer Menschen mit Lesemedien. (Quelle: https://www.kinderundjugendmedien.de)

13. Dezember 2023 | Friederike Wapler | Rechtsphilosophie & Öffentliches Recht, Mainz | Schulpflicht - warum? Grund- und menschenrechtliche Perspektiven

In Deutschland besteht für Kinder und Jugendliche nicht nur eine Bildungspflicht, sondern eine allgemeine Schulpflicht. Unterricht außerhalb öffentlicher oder privater Schulen ("Homeschooling", "Freilernen") ist - anders als in anderen europäischen Staaten und den USA - nicht erlaubt. Der Vortrag geht der Frage nach, ob sich die allgemeine Schulpflicht mit Blick auf die Grund- und Menschenrechte der Kinder und Jugendlichen rechtfertigen lässt.

Friederike Wapler lehrt Rechtsphilosophie und Öffentliches Recht an der JGU Mainz. Nach einer Promotion zu individualistischen und kollektivistischen Deutungen des Wertbegriffs im Neukantianismus habilitierte sie sich mit einer Untersuchung zum Status des Kindes im öffentlichen Recht. Ihre Publikationen thematisieren unterschiedliche Schwerpunkte des Kinder- sowie Schulrechts, Beiträge zu Reproduktionsrechten sowie zu Fragen des Aufenthaltsrechts. Friederike Wapler betreibt juristische Geschlechterforschung und vereinbart in ihren Schriften praktische wie theoretisch-rechtsphilosophische Kategorien. 2022 erschien in gemeinsamer Herausgeberschaft ein umfangreicher Kommentar zum Achten Buch des Sozialgesetzbuches, in dessen Zuständigkeitsbereich die Kinder- und Jugendhilfe fällt.

20. Dezember 2023 | Tobias Christ | Buchwissenschaft, Mainz | Volksbibliotheken zwischen „Volksbildung“ und „Volkbildung“. Zur Geschichte einer umkämpften Institution (1840–1933)

Stadtbibliotheken sind heute ein selbstverständlicher Bestandteil der öffentlichen Bildungsinfrastruktur. Das war nicht immer so. Erste öffentliche Bibliotheken entstanden um die Mitte des 19. Jahrhunderts vielmehr außerhalb der staatlichen Sphäre im Rahmen der Volksbildungsbestrebungen privater, konfessioneller und politischer Vereine, deren Impuls darauf abzielte, die Bildungskluft zwischen „Volk“ und Bürgertum im Interesse des „Gemeinwohls“ zu verringern. Wie indes die „richtige“ Volksbildung aussehen sollte, blieb lange Zeit umstritten. Die Geschichte der Volksbibliotheken zwischen 1840 und 1933 stellt sich dar als ein kontinuierlicher Kampf um die Durchsetzung konkurrierender Vorstellungen. So teilten die sie tragenden Vereine zwar den idealistischen Glauben an die Macht der Bildung, ließen sich jedoch von gänzlich divergierenden Interessen leiten, die in den von der bürgerlichen Klassengesellschaft produzierten Widersprüchen wurzelten, deren Überwindung man sich durch die propagierte Bildungsoffensive versprach. Ging es dabei im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts um die Frage der staatskonformen Integration der proletarisierten Unterschichten und Zurückdrängung der sozialistischen Arbeiterbewegung, so führte zu Beginn des 20. Jahrunderts im Zuge der fortschreitenden Institutionalisierung und Professionalisierung des Volksbibliothekswesens ein Richtungsstreit um die von Büchereien zu leistende Volksbildung zur Spaltung der Bibliothekswelt. Den Befürwortern einer an den amerikanischen public libraries orientierten nutzerorientierten Konzeption „verbreitender“ Volksbildung“ standen in der Mehrzahl die Verfechter einer erzieherischen „gestaltenden“ Volksbildung gegenüber, die den anonymen „Massenbetrieb“ ablehnten. Mit der Durchsetzung dieser „Neuen Richtung“ gegen den liberalen Modernisierungsansatz war schließlich das Fundament bereitet, auf dem nach 1933 die nationalsozialistische Erziehungsdiktatur aufbauen konnte, indem sie aus Institutionen der Volksbildung Erziehungsanstalten der Volkbildung machte.

Seit 2019 ist Tobias Christ wissenschaftlicher Mitarbeiter an der JGU Mainz. Er studierte zuvor an den Universitäten in Bochum und Barcelona. Das Studium der Germanistik schloss er mit einer binationalen Promotion über Friedrich Hölderlins lyrisches Spätwerk im Kontext der zeitgenössischen Lesekultur an beiden Universitäten ab. Er unterrichtete Deutsch als Fremdsprache und war an einem Editionsprojekt zu unveröffentlichten Hölderlin-Übersetzungen des katalanischen Dichters Joan Vinyoli beteiligt. Seine Forschungsschwerpunkte schließen neben der Lesekultur und Sozialgeschichte des 18. Und 19. Jh., dem Literaturbetrieb sowie Konzepten der Autor-Leser-Kommunikation auch den Literaturbetrieb und Buchhandel der NS-Zeit ein.

10. Januar 2024 | Barbara Henning | Geschichte des Islams, Mainz | Bildungsgeschichte(n) im Übergang. Eine Militärschule im osmanischen Nordirak und ihre Nachwirkungen in post-osmanischer Zeit

Der Vortrag findet online auf MS Teams statt: Link zur Teilnahme.

Wenn sich im Zuge eines politischen Systemwechsels Prioritäten, Inhalte und grundlegende Werte eines Bildungssystems ändern, hat das für die Betroffenen oft weitreichende Folgen. Orientierung und Seinsgewissheit können verloren gehen, Vertrauen in staatliche Institutionen und Akteure Schaden nehmen. Der Vortrag betrachtet diesen Problemkomplex aus historischer Perspektive im Kontext des Zusammenbruchs des osmanischen Reichs: Das Fallbeispiel der osmanischen Militärschule in Sulaimaniya im Nordirak im ausgehenden 19. Jahrhundert dient als Ausgangspunkt um über Fragen imperialer Bildungsgeschichte zu nachzudenken und dabei insbesondere die Herausforderungen des Übergangs in post-osmanische Zusammenhänge zu reflektieren. Dabei geraten Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs und die Integration unterschiedlicher religiöser und sprachlicher Gruppen durch Bildung ebenso in den Blick wie die Biographien und Karrieren von Absolventen der Militärschule in Sulaimaniya, die Politik und Gesellschaft im Nahen Osten auch weit über das Ende des osmanischen Reichs hinaus prägten.

Seit September 2020 ist Barbara Henning als Juniorprofessorin für die Geschichte des Islams im östlichen Mittelmeerraum am Historischen Institut der JGU tätig. Die Schwerpunkte ihrer Forschung sind in der osmanisch-kurdischen Geschichte, Geschichte der arabischen Provinzen des osmanischen Reichs sowie der Geschichte imperialer Eliten verankert. Identitäts- und Erinnerungspolitik, Selbstzeugnisforschung sowie Wissens- und Begriffsgeschichte rahmen diese Schwerpunkte methodisch. Von 2018 bis 2020 war sie mit einem Post-Doc Projekt zu Grenzsemantiken und Konzepten sozialer Grenzziehung im osmanischen Kontext Mitglied des DFG-Schwerpunktprogramms Transottomanica.

17. Januar 2024 | Torsten Cress | Soziologie, Mainz | Bildungspraxis und Digitalisierung. Die Transformation schulischer Wissensvermittlung in hybriden pädagogischen Arrangements

Der Vortrag findet online auf MS Teams statt: Link zur Teilnahme.

Die Praxis schulischer Wissensvermittlung sieht sich mit dem Einzug digitaler Bildungsmedien grundlegenden Transformationsprozessen ausgesetzt. Digitale Technologien lassen sich als eine neue Variante der Erweiterung einer in fortwährendem Wandel befindlichen materiellen Infrastruktur schulischen Unterrichtens begreifen, die etwa neue Möglichkeiten der Repräsentation von Wissensinhalten mit sich bringt, eingespielte Unterrichtsformen aber auch aufbricht, etablierte Praktiken des Unterrichtens herausfordert und die kritische Reflexion etwa auf Bildungsziele und ihre Erreichung stimuliert. Gerade in der Phase der Einführung und im experimentellen Umgang mit neuen Technologien lässt sich dabei beobachten, wie diese in gegebene mediale Infrastrukturen eingepasst, wie hergebrachte und neue didaktische Objekte mit ihren Möglichkeiten und Begrenzungen aufeinander bezogen, wie neue Konzepte einer funktionierenden Einbindung gefunden werden müssen und wie im Zuge einer solchen Exploration bestehende Praktiken der Wissensvermittlung rekonfiguriert werden. Am Beispiel des versuchsweisen Einbezugs interaktiver stereoskopischer Modelle und Simulationen am 3D-Bildschirm und mit VR-Brillen im naturwissenschaftlichen Unterricht einer Pilotschule geht der Vortrag Transformationen von Unterrichtspraxis in hybriden pädagogischen Settings nach und erörtert, wie dabei auch hergebrachte Vorstellungen „gelungener Bildung“ thematisch und verhandelt werden. Dabei wirft der Vortrag auch einen Blick auf die Lehr-/Lernmittelindustrie und fragt am Beispiel der Herstellung digitaler Lernmedien in einem Softwareunternehmen danach, wie spezifische Vorstellungen von Bildungspraxis in solche Objekte implementiert werden, die ihrerseits an einer Neuformatierung des Unterrichtsgeschehens beteiligt sind. Das hier erörterte Material entstammt einem ethnographischen Forschungsprojekt zu didaktischen Objekten, das im Kontext einer sozio-materiellen Unterrichtsforschung lokalisiert ist.

Torsten Cress studierte Sozialpädagogik und Soziologie sowie Mittlere und Neuere Geschichte an den Universitäten Darmstadt und Mainz. Nach einer Diplomarbeit zum Thema „Soziologie der Sozialen Arbeit. Systemtheoretische und (neo-)marxistische Ansätze im Vergleich“ promovierte er zur Materialität religiöser Praktiken mit einem Fokus auf katholische Glaubensvollzüge. Die Dissertation wurde durch unterschiedliche Diskursbeiträge zur soziologischen Kategorie der Materialität aber auch zu Fragen des „making“ und „doing“ religiöser Praktiken. Torsten Cress fokussierte sich in seinen jüngst erschienen Beiträgen auf soziologisch-digitale Reorganisation schulischen Lernens sowie strukturellen Transformationen in der schulischen Bildung in Zeiten der Digitalisierung.

24. Januar 2024 | Yaliz Akbaba, Stefan Bast, Sheila Ragunathan, Constantin Wagner | GRK Bildungsprozesse in der diskriminierungskritischen Hochschullehre | (Un)gehörte Geschichten von Bildung

Der Vortrag findet online auf MS Teams statt: Link zur Teilnahme.

Während das dominante Verständnis von Bildung eines an humanistische Ideale und an das Schöne, Gute und Hoffnungsvolle Glaubende im Menschen angelehnt ist, verweisen post- und dekolonial informierte Kritiken an diesem Verständnis auf die systematische Verquickung von Bildung und Herrschaft. Aus dieser Perspektive ist Bildung nicht per se gut. So sind westliche Bildungstheorien und -diskurse seit jeher Komplizinnen weißer Vorherrschaft. Im Vortrag argumentieren wir für diese These entlang von Analysen zu kolonialen Kontinuitäten in Bildung und der Institution Hochschule, eines Beispiels aus der Kunstpädagogik sowie entlang von Ergebnissen aus einer Studie zu (verunmöglichten) Bildungsprozessen in bildungswissenschaftlichen Lehrveranstaltungen.

Die Referent*innen sind Mitglieder im Graduiertenkolleg „Bildungsprozesse in der diskriminierungskritischen Hochschullehre“ an der JGU Mainz. In diesem Forum für Nachwuchsforscher*innen werden Fragen nach pädagogischen Handlungsweisen, diskriminierungskritischen Materialien sowie Bildungsprozessen gestellt und untersucht. Die meisten hier angesiedelten Dissertationsprojekte nehmen einzelne diskriminierungskritisch perspektivierte universitäre Lehrveranstaltungen mit Studierenden im Lehramt (Bildungswissenschaften), in der Kunstdidaktik und der Sozialpädagogik in den Blick, andere richten einen retrospektiven Blick auf die Hochschulbildung oder untersuchen Studiengänge.

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