Big Thoughts

Bericht von Lea Steinmetz (Bachelorstudierende Archäologie), Saskia Plura (Doktorandin Physik), Samira Mahi-Moussa (Masterstudierende Politische Ökonomie und Internationale Beziehungen)

Im Laufe unseres Lebens lernen wir über viele Entdeckungen und Erkenntnisse, die unseren heutigen Alltag geprägt und verändert haben. Aber wie kommt es zu diesen Erkenntnissen? Im Q+ Seminar „Big Thoughts“ haben wir uns erstmals mit der „Idee“ hinter einer wichtigen Entdeckung oder Erkenntnis befasst. Zusammen mit Prof. Dr. Hans-Ulrich Gumbrecht und Nobelpreisträger Prof. Dr. Reinhard Genzel versuchten wir, Antworten auf folgende Fragen zu finden: „Wie entsteht ein großer Gedanke?“, „Was braucht es, um diesen Gedanken umzusetzen?“ und vor allem: „Was ist ein großer Gedanke?“.

Am ersten Seminartag trug Prof. Dr. Hans-Ulrich Gumbrecht von der Stanford University/USA seinen Vorschlag für eine erste Eingrenzung und Definition des Themas „Big Thoughts“ vor und bot uns die Möglichkeit, sich dazu zu positionieren. Dazu stellte er die folgenden Fragen, die das Leitmotiv der nächsten Seminartage wurden: „Was ist ein Gedanke?“, „Was sind große Gedanken?“, „Unter welchen Bedingungen entstehen sie?“ und „Seit wann besteht ein Interesse an ihnen?“.

Zunächst definierte Gumbrecht dazu mit philosophischem Blickwinkel ‚den Gedanken‘ als artikulierten gegenwärtigen Bewusstseinszustand. Um von großen Gedanken zu sprechen, sind seiner Meinung nach zwei Voraussetzungen wichtig: Zum einen müssen diese Gedanken eine Resonanz unter Spezialisten und/oder über den Bereich der Spezialisten heraus in ein öffentliches Publikum haben. Zum anderen muss es eine Diskontinuität in der (spezialisierten) Welt geben - also ein Vorher und ein unumstößliches Nachher. Die Faszination an großen Gedanken in der westlichen Kultur ist seiner Meinung nach untrennbar verbunden mit der Entstehung und Verbreitung des historischen Weltbildes zwischen 1780 und 1830, sowie dem Aufkommen des Geniebegriffs im frühen 19. Jh. Er schließt nicht aus, dass es vorher große Gedanken gab, doch betrachtet er die menschliche Selbstreferenz als zentral für die Entwicklung - aber vor allem für die Rezeption - großer Gedanken. In einem Weltbild, in dem sich der Mensch als Wesen Gottes versteht und damit auch die eigenen Gedanken als gottgegeben annimmt, ist es eher unwahrscheinlich, dass Gedanken eine große Resonanz und Diskontinuität bewirken. Das historische Weltbild, in dem sich Menschen als Teil zwischen lehrender Vergangenheit und einer gestaltbaren Zukunft verstanden, ermöglichte einen besseren Nährboden für die Entstehung und Rezeption großer Gedanken.

Im Rahmen eines Versuchs der Typologisierung stellten wir fest, dass durch die Diversität großer Gedanken, entstanden in unterschiedlichsten Disziplinen, die nicht alle den gleichen Mustern folgen, eine einheitliche Definition unmöglich ist. In der Diskussion befassten wir uns daher unter anderem mit einem von Gumbrecht aufgeführten Symptom von „Big Thoughts“, der räumlichen und gesellschaftlichen Exzentrizität. In seinen Nachforschungen fiel Gumbrecht auf, dass verschiedene große Denker:innen eine gewisse Exzentrizität gemein haben. Jesus, der trotz räumlicher Exzentrizität, aus Nazareth stammend, Menschen um sich versammeln konnte - Immanuel Kant, der in Königsberg in einfachen Verhältnissen aufwuchs - Marie Curie, die in der polnischen Provinz geboren wurde und als Jüdin Diskriminierung erfuhr - Alan Turing der für exzentrisches, nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechendes Verhalten bekannt war.

In der Diskussion einigten wir uns außerdem darauf, dass große Gedanken nicht nur in Verbindung mit einer Person stehen, sondern immer auch in einem historischen, gesellschaftlichen sowie eines privat-netzwerklichen Kontextes zu sehen sind. Alle „Big Thoughts“ haben ihre Vorgeschichte, was wir am zweiten Seminartag in der Vorstellung verschiedener großer Denker:innen bestätigt fanden. Wir Studierenden stellten dabei verschiedene Persönlichkeiten vor: Kopernikus, der das heliozentrische Weltbild einführte, Maria Montessori, die die Montessori-Pädagogik entwickelte, Simone de Beauvoir, die maßgeblich zur feministischen Literatur beitrug und Alan Turing, der die Turing-Maschine entwickelte. Alle vier faszinierende Denker:innen, die in kleineren/größeren Maßstäben Veränderung für die Welt hervorbrachten.

Wir stellten fest, dass manche Personen, die mit gesamtgesellschaftlichen Bewegungen in Verbindung stehen, nicht zwingend auch große Denker:innen sind/waren und trotzdem an der Spitze von Umwälzungsprozessen zu erkennen sind. Diese Personen fassten wir unter dem Begriff ‚Katalysatoren‘ zusammen.

Nachdem die ersten beiden Seminartage sich zunächst auf philosophischem Weg der Frage näherten, was „Big Thoughts“ ausmacht und welche Voraussetzung zur Entstehung dieser gegeben sein müssen, hatten wir am dritten Seminartag die Möglichkeit, mit jemandem zu sprechen, der selbst einen großen Gedanken hervorgebracht hat und damit sein Fachgebiet nachhaltig prägte. Prof. Dr. Reinhard Genzel, Direktor am Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik in Garching, und Nobelpreisträger für Physik, der zusammen mit Andrea Ghez und Roger Penrose den Nobelpreis 2020 für die „Entdeckung eines supermassiven Objektes im Zentrum der Milchstraße“ erhielt, war uns am 13. Dezember live aus Stockholm zugeschaltet, wo er zuvor den Nobelpreis entgegennahm.

In seinem Vortrag erzählte er uns über seine Forschung, die über einen Zeitraum von 40 Jahren zu der Entdeckung führte, die ihm den Nobelpreis einbrachte. Genzel forscht im Bereich der Infrarot- und Sub-Millimeter-Astronomie mit Radioteleskopen, die er zusammen mit Charles Townes entwickelte, zur Entstehung und Entwicklung von Galaxien und schwarzen Löchern. Während für die Allgemeinheit die Idee eines schwarzen Lochs im Zentrum der Galaxis nicht neu ist, so ist der Beweis erst mit Reinhard Genzels Arbeit erbracht worden. Dies liegt an der Natur eines schwarzen Lochs: da ein schwarzes Loch durch seine extreme gravitative Anziehung selbst Licht einsaugt, ist eine direkte Beobachtung nicht möglich. Reinhard Genzel untersuchte zunächst die Bewegung von Gas um das schwarze Loch Sagittarius A* (SgrA*), bevor die bessere Auflösung neuer Teleskope die gezielte Untersuchung einzelner Sterne nahe des Ereignishorizonts des schwarzen Lochs ermöglichte. Durch die immer wieder verbesserte Auflösung der Teleskopbilder konnten schließlich andere Hypothesen ausgeschlossen werden und die Existenz eines schwarzen Lochs im Zentrum der Milchstraße bewiesen werden.

In der anschließenden Diskussion wurde deutlich, dass zur Verwirklichung eines großen Gedankens nicht nur der Gedanke selbst, sondern auch Mut und Durchhaltevermögen notwendig sind. Die Forschung Genzels, die sich über einen Zeitraum von 40 Jahren spannt, zeigt dies eindrücklich. Auch betonte Genzel, dass eine Entdeckung trotz keiner direkten Anwendungsmöglichkeit für die Allgemeinheit dennoch eine große Wirkung auf diese haben kann – die Faszination Universum zeigt, dass auch Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung, wie die Entdeckung eines schwarzen Lochs, zu Begeisterung für die aktuelle Forschung führen. Diese Begeisterung gilt es zu fördern, um die großen Denker von Morgen hervorzubringen. Wichtig ist auch eine Forschung, die sich nicht auf ein Themengebiet beschränkt, sondern eine Forschung in allen Bereichen, so Genzel. Die Erkenntnisse, die in einem Fachgebiet gewonnen werden, können vielleicht von größter Wichtigkeit für ein anderes Feld sein.

Das Seminar war ein voller Erfolg, was Studierende, Dozierende wie Veranstaltende mehrfach betonten. Mit der Hilfe von Hans-Ullrich Gumbrecht gelang es dem Seminar, sich dem oft als zentrifugal und sehr komplex beschriebenen Thema der Big Thoughts zu nähern. Reinhard Genzel vollendete die Veranstaltung, indem er anhand seiner eigenen Forschung uns die Entwicklung eines großen Gedankens und der damit verbundenen Anstrengungen aufzeigte. Im Namen aller Teilnehmenden möchten wir uns nochmals herzlich bei beiden Dozierenden für ihre geteilten Gedanken, ihre Offenheit und wertschätzende Art bedanken. Außerdem danken wir den Organisatoren, die diese Veranstaltung möglich gemacht haben.

Lea Steinmetz, Saskia Plura, Samira Mahi-Moussa

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