Habitat – Freiräume für anderes Wissen

Ein Bericht von Klarissa Station (Bildende Kunst), Anja Jeitner (Publizistik), Leonie Schmidt (Psychologie), Elias Wolf (Medizin), Lukas Kutscher (Wirtschaftswissenschaften) und Judith Schlaadt (Physik)

Welche Auswirkung hat unser räumliches Umfeld auf uns? Wie weit lässt sich ein Raum auf uns und unsere Bedürfnisse anpassen? Bietet derselbe Raum für jede*n die gleichen Handlungs- und Entfaltungsmöglichkeiten?

Wir sind ununterbrochen umgeben von Räumen: Räumen zum Schlafen, zum Essen, zum Arbeiten, zum Entspannen und zum Vergnügen, geschlossenen und offenen Räumen, warmen und kalten Räumen, Räumen, die wir mit der anonymen Öffentlichkeit oder mit vertrauten Menschen teilen und Räumen, die wir ganz für uns allein haben. Nicht zu vergessen die virtuellen Räume, die wir täglich im Internet durchschreiten.

Der Raum und wir stehen dabei immer in einem Spannungsverhältnis: einerseits gibt uns der Raum durch seine spezifische Beschaffenheit und Ausstattung bestimmte Handlungsmöglichkeiten vor, andererseits ist es von uns und unseren spezifischen Bedürfnissen abhängig, wie wir einen Raum am Ende nutzen.

Das macht den Raum, mit dem wir in der Regel etwas Abgeschlossenes, Unformbares bezeichnen, auf einmal ganz schön flexibel: er wird „relational“.

Mit dieser flexiblen Perspektive als Ausgangspunkt startete das Blockseminar „Bauhaus Open Studios“ unter Leitung von Henrike Plegge, die an der Kunsthochschule Mainz Kunstdidaktik lehrt. Nachdem wir bedingt durch Corona nicht zum Bauhaus Dessau fahren konnten, setzen wir uns im Wintersemester 2020/21 drei Tage lang virtuell mit dem Raum als Ort des Lernens und Lehrens auseinander. Unsere Gruppe bestand aus sieben Studierenden unterschiedlicher Fachrichtungen der Geistes-, Sozial-, Human- und Naturwissenschaften. Man kann sich gut vorstellen, welche unterschiedlichen Vorstellungen von „Raum“ bei der anfänglichen Diskussion aufeinanderprallten.

Draht, Klebeband, getrocknete Pflanzen, Skizzenblock und Tütensuppe: Welches Material inspiriert uns zu einem eigenen, dreidimensionalen Entwurf unseres Lernraumverständnisses? Welches Verständnis liegt der Bauhauspädagogik und Architektur zu Grunde? Wie können Materialien transformiert werden?

Die damaligen Studierenden haben am Bauhaus einen Vorkurs absolviert. Neben anderen lehrte Johannes Itten grundsätzliche Materialverständnisse durch rhythmische Körperübungen, Materialstudien und Übungen zu Kontrast, Komposition und Form. Anstatt, wie damals in der Lehre üblich, Kunstwerke zu kopieren, sollten die Studierenden die Materialität aktiv erfahren und abstrahieren. Angelehnt an dieses Lehrverständnis im Bauhaus schickte Henrike Plegge uns Pakete nach Hause. Die Materialien in den Paketen wurden die Basis für unsere eigenen Materialstudien.

Alle Gedanken konnten in dem beiliegenden Skizzenheft notiert und gesammelt werden. Dazu kam der Impuls, die gelesene Theorie zeichnerisch zu verbinden. Die anfängliche Hürde, die Hand frei laufen zu lassen und eine eigene Sprache zu finden, also das Gelesene neu zu sortieren, wurde überwunden. Es entstanden zahlreiche freie Zeichnungen – eine eigene Symbolik für den Inhalt der Texte. Nach und nach wuchs auch die digitale Plattform miro, in der wir alle Gedanken, Erkenntnisse und künstlerischen Arbeiten dokumentierten. Alle Studierenden konnten sich aktiv beteiligen, Einträge vornehmen und Bilder hochladen. So gelang uns ein interaktiver Umgang miteinander, trotz der Online-Veranstaltung.

Als theoretische Grundlage des Seminars dienten drei verschiedenen Lehr-/Lernansätzen, mit denen wir uns intensiv beschäftigen und diskutierten.

Relationaler Raum

Dieser Begriff aus der Raumsoziologie bezieht sich auf die „relationale (An)ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten“ (Martina Löw) und setzt sich aus dem Spacing und der Syntheseleistung zusammen. Dabei bezeichnet das Spacing das bewusste Verorten und Verortet-Werden von Lebewesen und sozialen Gütern an konkreten Orten, wobei durch die Wechselwirkung zwischen Platzierenden und Platzierungen Raum entsteht. Das Spacing erfolgt aber nie ohne die Syntheseleistung, welche das Zusammenfassen von sozialen Gütern und Menschen/Lebewesen zu Räumen über Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsprozesse beschreibt.

Engaged Pedagogy

Beim Ansatz von bell hooks geht es darum, eine antirassistische, antisexistische und antiklassistische Wissensvermittlung zu realisieren.

Lernen als Umlernen

Das Lernen orientiert sich heute meistens nur an den Resultaten. Man lernt immer nur dazu, und „erweitert“ vermeintlich sein Wissen. Der Prozess des Lernens wird dabei zu etwas Beiläufigem. Dieser Prozess ist jedoch für die Pädagogin Meyer-Drawe etwas ganz Entscheidendes. Besonders wichtig ist für sie beim Lernen die Form des Umlernens. Man stößt beim Lernen auf ein Hindernis, dass zunächst hilflos macht. Bei der Bewältigung des Problems versagt das alte Wissen, was ein unangenehmes Gefühl auslöst, welches sogar das eigene Selbstvertrauen durchkreuzen kann. Schließlich liegt man mit der eigenen Antizipation schmerzhaft daneben. Es kommt zwangsläufig zum Umlernen. Dieses vollzieht sich als Erfahrung in Form des Erwachens. Man spricht auch von dem Eintreten in statu nascendi. Einmal umgelernt, transformiert sich das eigene Wissen und man kann das Hindernis bewältigen. Meyer-Drawe ist es wichtig, dass Menschen die Vielfältigkeit und Mehrdeutigkeit von Lern-Erfahrungen anerkennen und diese in ihr Lehr-Lernverständnis mit einfließen lassen. Insbesondere in frühen Stadien der Entwicklung, zum Beispiel bei Kindern, ist dies besonders wichtig und meist auch sehr deutlich beobachtbar. So hinterfragen Kinder viele Dinge und versuchen diese mit Phantasie zu erklären. Meyer-Drawe appelliert, dass Menschen jedes Alters sich daran orientieren sollten.

In welchen Räumen lernen wir eigentlich gut? Welche Räume des Lernens sind wir gewohnt und welche Erfahrungen haben wir gemacht? Wie beeinflusst ein Raum das Machtverhältnis zwischen Lernenden und Lehrenden? Gibt es Lehrräume, die für einen Teil der Lernenden bestimmte Barrieren bergen? Wie können diese behoben werden? Mit diesen Gedanken fertigten wir während der theoretischen Vorträge Skizzen an, die dann in abstrakte Raummodelle übertragen wurden.

Unsere Räume wurden zu Beziehungsgeflechten der einzelnen Materialien, unserer Vorstellungen und künstlerischen Leistung. Wir bewegten die Gegenstände und sie bewegten uns, indem wir uns auf sie einließen und die Transformation zuließen. Modelle wurden gebaut, ganze Zimmer wurden verbunden und Installationen hingen von der Decke.

In der Abstraktion wurde sichtbar, dass jede*r einen eigenen Raum konstruierte, eine eigene Bewegung einbrachte, eine eigene Vorstellung verfolgte. Lernräume können also verschieden sein, unterschiedliche Vorstellungen und Konstruktionen bringen Beweglichkeit. Ein Raum, der möglichst viel Transformationscharakter hat, könnte also möglichst viele Charaktere widerspiegeln und alles und jede*n, der/ die den Raum verändern, als Bereicherung wahrnehmen.

Genau wie die Bauhäusler*innen im Vorkurs, wurden wir Teilnehmenden mit neuen Materialien konfrontiert und haben so unsere Lehrverständnisse umgestaltet. Statt Muster zu reproduzieren haben wir auf neue materielle Impulse reagiert. Räume können umstrukturiert werden und auf die Gesellschaft darin reagieren. Sie können zu mehr als Behältern werden – genau wie Lernende.

 

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