Menschliche Bindungen aus psychoanalytischer Sicht: Relevanz für Gesundheit und Gesellschaft

Ein Bericht von Samira Mahi-Moussa, Masterstudentin Politische Ökonomie und Internationale Beziehungen

„Von Anfang an führen wir unser Leben mit der/dem anderen.“ (Vittorio Gallese, 2013)

Im Januar 2021 fand das Q+Blockseminar „Menschliche Bindungen aus psychoanalytischer Sicht: Relevanz für Gesundheit und Gesellschaft“ unter der Leitung von Dr. rer. physiol. Anna Herrmann und Dr. med. Irina Tavlaridou aufgrund der Pandemie digital statt. Die Psychologin und Psychotherapeutin Anna Herrmann und die Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Irina Tavlaridou boten den 20 Studierenden aus unterschiedlichen Fachrichtungen einen transdisziplinären Zugang zu den medizinischen und psychologischen Grundlagen der menschlichen Bindungen.

 

Der Mensch ist ein soziales Wesen und nur eingebettet in einer Gemeinschaft überlebensfähig. Dem zugrunde liegen die zwischenmenschlichen Bindungen, die jede Person von Geburt an mit den Menschen in ihrer Umgebung eingeht. Bereits im frühkindlichen Alter existiert eine starke Bindung zwischen dem Kind und seinen primären Bezugspersonen, deren Bedeutsamkeit beispielsweise durch das von Edward Tronick entwickelte Still-Face-Experiment gezeigt werden konnte. Dieses Band zwischen zwei Menschen dient laut dem Begründer der Bindungstheorie, John Bowlby, der Befriedigung sowohl physischer als auch emotionaler Bedürfnisse. Diese Bindungen halten großen Entfernungen stand, entstehen bereits vor der Geburt eines Kindes und währen sogar über das Leben hinaus bis nach dem Tod eines geliebten Menschen fort.

Studien zur frühen Elternschaft haben bewiesen, dass beim Zeigen von Fotos, auf denen Kleinkinder mit fröhlichem, leidendem oder neutralem Gesichtsausdruck u.a. Teile des Großhirns (zuständig für bewusstes Handeln), die Amygdala (sogenannter Mandelkern; Teil des limbischen Systems zur Emotionsverarbeitung; Zentrum von Angst und Aggression) und das Belohnungssystem aktiviert werden. Bei gesunden Müttern wurden bei emotionalen Bildern besonders das Belohnungssystem sowie das Großhirn aktiviert, was mit der Zuwendung auf die Bedürfnisse des Kindes einhergeht. Bei depressiven oder traumatisierten Müttern hingegen, hat - vergleichbar mit Nicht-Müttern - vor allem die Amygdala eine hohe Aktivität gezeigt.

Beeinflusst vor allem durch seine Erfahrungen mit seinen engsten Bezugspersonen kann ein Mensch in der Kindheit einen sicheren, unsicher-vermeidenden, unsicher-verwickelten oder desorganisierten Bindungsstil entwickeln. Der Bindungsstil eines Menschen hat Relevanz für seine Gesundheit. So haben Menschen mit einer sicheren Bindung eine höhere Wahrscheinlichkeit für körperliche und psychische Gesundheit und Menschen mit einem unsicheren Bindungsstil aufgrund einer gestörten Stressregulation ein höheres Risiko für körperliche oder psychische Erkrankungen. Erklären lässt sich dieser Zusammenhang damit, dass unser Körper und unser Geist bzw. unsere Seele bekanntermaßen Hand in Hand gehen und nicht getrennt gedacht werden können. Analog funktioniert auch unser flexibles Gedächtnis: Wir erinnern uns permanent und unbewusst über unsere Sinne und über die sogenannten sensomotorischen Koordinaten im ganzen Körper und nicht nur im Kopf („Embodiment“). Gedächtnis findet im gesamten Körper und mithilfe von System-Umwelt-Interaktion bzw. von Beziehungen statt.

Wie sich gezeigt hat spielt, abgesehen von der individuellen Gesundheit einer primären Bezugsperson und ihrer Bindung zu ihrem Kind, auch die Umwelt eine große Rolle bei der Formung menschlicher Bindungen. Die gesellschaftliche Tabuisierung des Dialogs über psychische Erkrankungen kann somit auch zu einer Verschlechterung des allgemeinen Gesundheitszustands einer Gesellschaft beitragen. Es ist daher angebracht und empfehlenswert, diesen öffentlichen Dialog zugunsten der gesamten Gesellschaft zu fördern.

Das Seminar war für mich persönlich eine große Bereicherung, da menschliche Bindungen ein ständiger und kaum hinterfragter Bestandteil unseres Lebens sind und ich somit zum Beispiel meinen eigenen Bindungsstil besser einordnen konnte. Seit dem Seminar bereitet es mir große Freude, die Menschen in meiner Umgebung mehr oder minder zu „analysieren“ und menschliche Bindungen bewusster wahrzunehmen. Ich habe außerdem hilfreiche Umgangsweisen aus dem Seminar mitgenommen, insbesondere in Bezug auf meine persönlichen Bindungen und Bindungserfahrungen und in Bezug auf die veräußerlichten Verhaltensweisen unterschiedlich gebundener Menschen. Das Bewusstsein über die verschiedenen Einflussfaktoren, die ein Mensch prä- und postnatal sammelt, stärkt mein persönliches Interesse, menschliche Bindungen und vor allem ihre Umwelteinflüsse sowohl privat als auch gesellschaftlich und gesellschaftspolitisch stärker zu thematisieren. Besonders gut fand ich die sehr anschaulich und umfänglich aufgezeigten Studien, die sich mit der Thematik Bindung und Gesundheit befassen. Erstaunlich finde ich, dass viele bedeutsame Erkenntnisse der Psychoanalyse erst in jüngster Vergangenheit gewonnen wurden.

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